Liebes Dr.-Sommer-Team,

ich brauche Ihren Rat – ich glaube, mit mir stimmt was nicht! Vor ein paar Jahren hatte ich mein Coming-Out als Liberale. Manchmal fühle ich mich sogar ein bisschen libertär! Oft werde ich deshalb von den anderen Kindern gehänselt und ausgelacht. Doch ich dachte eigentlich immer, mich mit dem Liberalismus identifizieren zu können. Meine Eltern meinen glaube ich immer noch, es wäre "nur eine Phase". Aber ich bin mir ganz sicher. Mein Zimmer hängt schließlich voller Friedman-Poster!
Leider ertappe ich mich inzwischen immer öfter bei dem Gedanken, dass ich viele deutsche Liberale ganz widerlich finde. Es ekelt mich regelrecht, wenn es um eine bestimmte sehr beliebte Spielart des Liberalismus geht, und zwar das Unterschichten-Bashing. Wie abscheulich, wenn z.B. dieser Herr W. Klassenkampf für die Mittelschicht macht:

"Die Mitte in Deutschland sind die ganz normalen Familien. Das sind diejenigen, die morgens aufstehen, ihre Kinder versorgen und zur Arbeit gehen. Es sind diejenigen, die sich anstrengen, um für sich und ihre Familien etwas auf die Beine zu stellen….(…) Die Mehrheit der Deutschen steht morgens noch auf, auch wenn man das in den Fernseh-Talkshows am Nachmittag auf den ersten Blick nicht vermuten möchte. Es ist diese Mitte, die mit ihren Steuern und Abgaben das Land trägt."

(Rede auf dem FDP-Parteitag,.pdf)

Liebes Dr. Sommer-Team, ich finde ja Steuersenkungen auch richtig. Wirklich!!! Aber mir wird schlecht bei der impliziten moralisierenden Diffamierung von Menschen, die nicht dem "Leistungs"-Ideal dieses Guido entsprechen. Ich ertappe mich immer wieder bei dem Gedanken, sozialdarwinistischen Rechtsanwalts- und Apothekersöhnen, die die Faulheit ihrer Mitbürger beklagen, die Frage zu stellen, ob sie wirklich glauben, sie hätten auch als Kind sozialhilfeempfangender Alleinerziehender Abi gemacht. Ist das normal??? Vom Ausdruck "die, die den Karren ziehen" kriege ich rote Pusteln am ganzen Körper. Liegt das vielleicht nur daran, dass zu viele meiner Lehrer Alt-68er waren, liebes Dr.-Sommer-Team? Ist das auch der Grund, warum meine Haut zu schuppen und jucken beginnt, wenn die FDP – wider alle Ergebnisse aus der Wirtschaftswissenschaft! – fordert, die Ökosteuer abzuschaffen, eine der wenigen sinnvollen Steuern? Und gar nicht mehr zugehörig zur Gruppe der Liberalen fühle ich mich, wenn sowas kommt:

"Wenn wir an Probleme in der jungen Generation denken, so sage ich Ihnen, die Politik sollte weniger über die Ausstattung von Gefängnissen und mehr über die Ausstattung von Schulen reden."

Nesselsucht am ganzen Körper hab ich bekommen von diesem Spruch! Mein Arzt sagt, ich hätte wahrscheinlich eine Populismusallergie und vielleicht auch eine Überempfindlichkeit gegen Antiintellektualismus und deshalb müsste ich die FDP vollständig meiden.
Liebes Dr-Sommer-Team, was soll ich nur tun? Hatten meine Eltern recht und ich muss nur den richtigen Volksparteivertreter kennenlernen? Bin ich vielleicht gar nicht liberal? Soll ich es mit Kurt Beck versuchen, auch, wenn es zuerst unangenehm ist, aber vielleicht finde ich ja doch Gefallen daran? Oder kann es vielleicht sein, dass Politik einfach gar nichts für mich ist? Bitte antworten Sie!

C., 16, München

Null Bock

Manchmal fragt man sich schon: anlässlich der Telekom-Abhör-Affäre fordert der Bund deutscher Kriminalbeamter folgerichtig…

…die Verbindungsdaten sämtlicher Telefonkunden in einer zentralen Datenbank zu speichern. Diese Datenbank sollte dann unter der Aufsicht des Datenschutzbauftragten stehen. "Die Telekom-Affäre ist eine Riesenchance für den Datenschutz, die wir nutzen müssen. Es ist doch offensichtlich, dass sensible Kundendaten bei privaten Unternehmen mehr als schlecht aufgehoben sind", sagte BDK-Vorsitzender Klaus Jansen… (Heise)

Und beim Staat wären unsere sensiblen Daten natürlich absolut sicher. Etwa so sicher wie die zarten grünen Triebe in einem Garten, der zur Aufsicht gerade vierbeinigen, bärtigen und gehörnten Paarhufern der Gattung Capra übergeben wurde (s. Abb.). Ich verstehe in diesem Zusammenhang immer nicht ganz, wie Leute Firmen wie Google, Facebook, und meinetwegen auch die Telekom in einen Topf werfen können mit staatlichen Behörden, oder sogar der Meinung sein können, beim Staat seien Daten besser aufgehoben. Weder Google noch Amazon (und schon gar nicht die Schnarchis von der Telekom) werden, so meine Vermutung, jemals die Türen von Privatleuten nachts mit Rammböcken öffnen, in vermummter Dutzendmannschaft mit MG im Anschlag Menschen aus dem Bett zerren und sie schließlich treusorgend in verfahrenssichernde Ermittlungsmaßnamen einbeziehen. Von Überschreitungen des rechtsstaatlich Erlaubten jetzt mal gar nicht zu reden…

Alleine beim Gedanken einer zentralen staatlichen Datenbank bekomme ich Gänsehaut – dabei, wie heißt es noch so schön:

People should not be afraid of their governments. Governments should be afraid of their people.

Sinniges zum Armutsbericht

Ein interessanter Artikel über den "Armutsbericht" von unserem tapferen Ahab aus der Poschingerstraße findet sich bei der Wirtschaftswoche:
"Zunächst einmal stimmt es nicht, dass jeder achte Deutsche arm ist. Wäre diese Aussage korrekt, käme der deutsche Sozialstaat der im Grundgesetz und im zwölften Sozialgesetzbuch festgelegten Aufgabe, die Würde des Menschen durch seine Sozialleistungen zu sichern, nicht nach. Im Armutsbericht findet man eine solche Aussage auch gar nicht. Dort ist von „Armutsrisiko“ statt von Armut die Rede, das ist ein Unterschied."
(…)
"Zweifel an der Interpretation der Zahlen sind auch insofern angebracht, als die dargestellten Entwicklungen sich nicht auf Pro-Kopf-Einkommen, sondern auf das „bedarfsgewichtete Einkommen“ beziehen. Dabei wird unterstellt, dass zwei Singles zusammen ein Drittel mehr Einkommen brauchen als ein Paar. Das ist nicht unplausibel, impliziert aber, dass die zitierten Verteilungsmaße eher die Ausweitung gesellschaftlicher Wunschvorstellungen als ökonomisch bedingte Versorgungsdefizite widerspiegeln. Das sonst in der Statistik gültige Prinzip, das Faktum vom Werturteil zu trennen, wird bei der Armutsstatistik durchbrochen."

Beim echten Ahab bin ich inzwischen übrigens schon bei Kapitel 99.

(Bild: Wikimedia Commons)

Sieben Jahre in Grosny

In der taz findet sich ein hochinteressanter Artikel über das Chinabild des Westens, insbesondere im Bezug auf den Tibetkonflikt:

Die Berichterstattung in den westlichen Medien wiederum gleicht einer Art Hysterie. Schon lange gilt Tibet in Europa und Nordamerika als etwas ganz Besonderes und Mystisches. Tibet wird als ein exotisches Gebilde angesehen, das idealisiert und als "rein" begriffen wird, als "Mythos Tibet", wie ein vor einigen Jahren erschienenes Buch dieses Phänomen nannte. Hier sei auch daran erinnert, dass Tibet vor 1950 keineswegs eine harmonische, auch nur annähernd demokratische, sondern eine stark hierarchisch organisierte Klassengesellschaft war, die selbst der Dalai Lama als "feudal" charakterisiert hat: mit einer erblichen und besitzenden Adelsklasse an der Spitze und einer großen Zahl armer oder landloser Kleinbauern – auch wenn niemand mehr dorthin zurück möchte.  (Thomas Heberer in der taz)

Flagge der tschetschenischen Exilregierung

Wer weiß: hätte mein Jugendheld Heinrich Harrer nicht in Lhasa, sondern in Tschetschenien seine Zuflucht gefunden und ein dementsprechendes Buch geschrieben, dass man dann wiederum mit Brad Pitt hätte verfilmen können, würden die Lisa Simpsons dieser Welt Free Tchetchnia rufen (wenn es sich auch nicht so schön anhört).

In dieser Hinsicht haben die Tschetschen aber eher Pech gehabt.

“Ethik des Nichtwählens”: Follow Up

Ich hatte zur allgemeinen Volksbildung, die mir ja immer sehr am Herzen liegt, hier schon mal erklärt, warum Nichtwählen nicht so schlimm ist, wie von Wohlgesinnten (das schöne Wort kann man jetzt wohl auch nur noch mit unguter Konnotation verwenden?), also meinetwegen von Es-Gut-Meinenden behauptet wird. Nun redet mir in dieser Angelegenheit ein amerikanischer Ökonom das Wort, der (Disclaimer) an der ultralibertären George Mason University tätig ist und auch so aussieht. Donald Boudreaux schreibt:

The notion that greater involvement in politics is noble and beneficial stems from several delusions. The first of these delusions is that all time devoted to politics would be used less productively in nonpolitical pursuits. (…) The person who, say, volunteers to work for a political campaign necessarily takes time away from activities such as studying, working for a private employer or helping parents out around the house. (…) it might be true that spending time on politics is the best use of someone’s time — but it is far from being necessarily true. (Pittsburgh Tribune-Review)

Das ist vielleicht ein bisschen sophistisch. Es wird aber besser:

A more serious delusion is that politics is the only — or, at least, the most noble — venue for each of us to get "involved" with our fellow humans. In fact, though, we are involved even when we pay no attention to politics. We care for our families, support our friends, work at jobs that produce goods and services for millions of people and are active members of churches and clubs. Each of us is intensely involved, daily.

Das, finde ich, trifft ganz gut die Bigotterie, die das "politische Engagement" umgibt: warum soll die Tätigkeit als Politiker, Parteisoldat oder Stimmvolk, Ausschussmitglied oder Wahlkämpfer an sich eine edlere sein als z.B. die als Arbeitnehmer, Unternehmer oder Elternteil, Künstler oder Wissenschaftler? Wer sagt, dass der "politisch Engagierte" seinen Mitbürgern einen größeren Gefallen tut, wenn er über sie betreffende Gesetze abstimmt oder berät, als wenn er mit ihnen Geschäfte macht, oder sich sonst mit ihnen, zur beiderseitigen Freude, austauscht? Bourdeaux Boudreaux meint sogar:

Indeed, we are involved better and more fully when we act privately (that is, outside of government) than when we act politically.
Acting privately, none of us intrudes without invitation into other people’s affairs.

Der politisch Involvierte hat – so die libertäre Ansicht – den unangenehmen psychologischen Grundansatz, dass es ihm persönlich anstehe, anderen zu sagen, was sie zu tun haben. Das ist sozusagen die hässliche Kehrseite des sich rücksichtsvoll enthaltenden Nichtwählers, den ich in meinem Artikel als den wahren Helden identifiziert hatte!
Aus dieser (zugegebenermaßen etwas grobschlächtigen) Theorie folgt aber auch, dass politisches Engagement für solche Menschen äußerst angebracht ist, die für den privaten, freiwilligen Austausch gar kein Gegenüber fänden. Womit wir mit einem Schlag die Phänomene Markus Söder und Andrea Nahles erklärt hätten. Danke, Mr.Boudreaux!

Die verlorene Ehre der Ashley Dupré

Die FAZ hat schon recht, wenn sie beklagt, dass im Spitzer-Skandal nun das Leben der betroffenen Prostituierten unter die Lupe der Presse genommen wird. Es gibt interessantere Themen (nur kann man die, für SPON ausschlaggebend, nicht mit Halbnacktfotos illustrieren. Oder will hier jemand Kurt Beck im Bikini sehen? – Mahlzeit!). Warum der Abdruck des (öffentlich zugänglichen) Myspace-Profils bzw. der Liedtexte der Dame so schrecklich fies ist, wird mir allerdings nicht klar. Deutlich übers Ziel (und die Grenzen des guten Geschmacks) hinaus schießt der Autor dann mit der Formulierung, Herr Spitzer hätte “die junge Frau mit Geld zu Sex genötigt.” Wenn ich zum Kiosk gehe, dem Verkäufer zweifuffzich hinlege und eine FAZ verlange – was, bei Gott, selten vorkommt-, hab ich ihn auch nicht “mit Geld beraubt”, sondern ein Geschäft mit ihm gemacht. Aber zu einem solchen – klar – kann eine junge hübsche Frau, die auch noch aus schlimmen Verhältnissen stammt, natürlich per definitionem gar nicht in der Lage sein. Erklären wir sie deshalb doch gleich von vorneherein zum Opfer, das erst von seinen Kunden missbraucht, und jetzt auch noch von den Medien “vergewaltigt” wird.

Prostitution automatisch in die Nähe sexueller Nötigung zu rücken, ist eine Beleidigung für alle Prostituierten – und vor allem für alle Opfer tatsächlicher sexueller Nötigung, also z.B. der sogenannten “Zwangsprostitution”, die mit dem Ausdruck serielle Vergewaltigung besser bezeichnet wäre. Und die Ehre einer Frau – um die scheint es dem Autor ja zu gehen – schützt man nicht dadurch, dass man sie zum hilflosen, armen Opfer erklärt. Hilfreicher wäre für die Situation Prostituierter der Hinweis, dass die in den USA betriebene Kriminalisierung der Prostitution ein schädliches Überbleibsel aus dem letzten Jahrhundert ist, das – auch in diesem Fall – Leben zerstört.

Wenn Vater Staat es mal wieder gut meint…

…und die familiäre Ordnung vor schädigenden Wirkungen des Inzests bewahren will, steckt er – folgerichtig – einen Familienvater ins Gefängnis. Die dabei gemachte Anmerkung, dass die Kinder bestimmter Menschen ja schließlich auch ein erhöhtes Risiko hätten, schwerwiegende genetische Schäden zu erleiden, war schon immer ein beliebter Grund, solchen Subjekten die Fortpflanzung zu verbieten. Fein gemacht!

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Ethik des Nichtwählens

Schon lange stellt Cohu sich die Frage: Gibt es wirklich eine moralische Pflicht, zur Wahl zu gehen? Stellt, wie Dr.Sno* das so treffend ausdrückt, "die Stimmenthaltung die schlechteste Wahl dar"? Mal sehen.
Das Nichtwählen kann man, so meine These, nicht als verwerfliche Dösigkeit, Ignoranz oder gar Boshaftigkeit abtun, der beliebte Vorwurf der "Politikverdrossenheit" (übrigens eins der schönsten deutschen Wörter!) geht in vielen Hinsichten ins Leere.

Vielmehr scheint es mir zunächst so zu sein, dass Nichtwählen aus demokratischen Grundprinzipien vielleicht nicht logisch, doch aber psychologisch folgt: Demokratie heißt für den Einzelnen, dass er sein eigenes Schicksal, in gewissen festgeschriebenen Grenzen, der Mehrheitsmeinung unterwirft. Der Bürger einer Demokratie muss also psychisch dazu in der Lage sein, es zu verkraften, dass andere über ihn entscheiden: ansonsten zerbricht der demokratische Vertrag. Diese Fähigkeit der Demut vor der Mehrheit hat nun der Nichtwähler perfektioniert. Er sagt nämlich, statt das Überstimmt-Werden überhaupt zu riskieren, gleich: "Entscheidet ihr doch!". Das mag für die Interessen des Individuums gar nicht so gut sein, aber es hält – und das ist entscheidend – das System zusammen. Genauso wie tausende von deutschen Mamas ihren Familien die Wahl über Essen, Fernsehprogramm und Urlaubsgestaltung überlassen ("Esst ihr erstmal!" – "Nimm du die Fernbedienung" – "Solang ich nicht kochen muss…")  – und damit die traditionelle Kernfamilie retten! Ein heroisches Unterfangen!

Dieses Lob der Nichtwahl kann man sogar noch weiter treiben: hören wir in diesem Zusammenhang, was Herr Lammert (CDU, Bäckerssohn) zum momentan zur "Vertrauenskrise" der Politik stilisierten Linksradikalen-Problem zu sagen hat. Nämlich:

(…) dass es schon möglich sein muss, dass Parteien, dass Parlamente sich anders entscheiden als den gemessenen festgestellten Wählererwartungen entspricht. Wir würden viele notwendige Veränderungen in unserem Land überhaupt nicht und schon gar nicht rechtzeitig auf den Weg bekommen, wenn es nicht die Bereitschaft gäbe, auch unpopuläre, von der Mehrheit zu diesem Zeitpunkt nicht gewollte Entscheidungen zu treffen. Fast alle großen Richtungsentscheidungen dieser Republik sind getroffen worden zu einem Zeitpunkt, als die Mehrheit der Bevölkerung mit genau diesen Entscheidungen überhaupt nicht einverstanden war." (Deutschlandfunk)

Als Beispiele für gute, gegen die Mehrheit gefällte Entscheidungen nennt Lammert die soziale Marktwirtschaft, die Wiedereinrichtung der Bundeswehr, den NATO-Doppelbeschluss. Man könnte nun ganz bösartig werden und Herrn Lammert jene gegen die Mehrheitsmeinung getroffenen Entscheidungen um die Ohren hauen, die auch in der Rückschau nicht als großartige Richtungsentscheidungen bewertet werden – bin aber zu faul. Stattdessen folgern wir: wenn große  Richtungsentscheidungen am besten gegen den Willen der Mehrheit getroffen werden, dann ist Wählen aus individueller Perspektive überflüssig, ja: störend. Wenn man schon wählen gehen muss, dann bitte den Kandidaten, der etwas durchsetzen will, was man selbst saublöd findet: damit liegt man nach Lammert’schen Prinzipien richtig.

Eine letzte Anmerkung: moralisch auf jeden Fall auf der sicheren Seite ist, im herrschenden System, jeder Nichtwähler, der im Falle einer Wahl Extremisten gewählt hätte. Wahlmathematisch betrachtet ist es nun doch wesentlich effizienter, einen Extremwähler von den Vorzügen der Nichtwahl zu überzeugen, als einen Moderatwähler zum Urnengang zu bewegen. Politikverdrossenheit und fehlendes politisches Engagement, ansonsten laut beklagt, sind also überaus positive Eigenschaften – bei Nazis.
In diesem Sinne: es lebe die Nichtwahl!

Prozentuwahl

So, jetzt gibt’s ihn also doch noch rechtzeitig vor der Wahl, den München-Wahlomat, leider nicht vollautomatisch – man braucht Zettel und Stift oder gutes Gedächtnis -, aber trotzdem, sie enttäuscht uns nicht, unsere guten alte AZ. Und wer hat ihn gefunden? Natürlich die immer rundum informierte Helga!
(Den Teststimmzettel auf Muenchen.de kann ich aufgrund der schlechten Softwareumsetzung, die bei mir zu Browsercrashs führt, nicht empfehlen…)
Jetzt ist es ja blöd, wenn man so ein Ergebnis bekommt wie vier Mal d, vier mal a, zwei mal c. Da weiß man ja am Schluss noch weniger, was man wählen soll…Soll man dann, bei Stadtrat und BA, seine diversen Stimmen (80 für den Stadtrat, 25 für den BA 3) prozentual aufteilen – kann ich schon mal gar nicht ausrechnen -, oder sich für eine Partei entscheiden? Und: weiß der durchschnittliche Bürger eigentlich, wofür BA und Stadtrat so zuständig sind? Ich weiß das ehrlichgesagt im Detail nicht, obwohl ich sogar schon Bürgerversammlungen besucht habe (und somit praktisch als  Hardcore-Kommunalpolitikjunkie gelten muss).
Ich selbst hab ja, ich geb es zu, kommunalpolitisch gesehen eigentlich nur eine Position: Pro Mülleimer. Ja, wenn es um ungeleerte, überfüllte und vernachlässigte Abfallkörbe geht, werd ich zur Fundamentalistin. Aber diesen Punkt hab ich noch in keinem Wahlprogramm gefunden. Anscheinend teilt keiner meine private Obsession. Ts, dann suhlt Euch doch weiter im Schmutz, ihr garstigen Mitbürger. Kreuz der Demokratie!

I feel your pain.

Auf die 68er einschlagen, das ist ja momentan ziemlich en vogue. Waren ja auch abstoßend, diese langhaarigen palästinensertuchsiffenden Zwangsbefreier, immer dagegen und dabei auch noch ungewaschen. In der Rückschau: das war nix! Und dann auch noch Karriere machen…
Die Genitalien der Gesellschaft beteiligen sich am 68er-Bashing deshalb momentan genauso eifrig wie ihr Neocortex (Gratulation übrigens: bester Buchtitel ever!)
Wer es, wie Cohu, nicht erlebt hat, kann dazu natürlich wenig sagen. Ich bin heute allerdings auf ein Tondokument gestoßen, das mir eindrücklich zu verdeutlichen scheint, wogegen die Damen und Herren 68er damals rebelliert haben. Das war nämlich nicht unbedingt die unverarbeitete Nazivergangenheit, der Muff von tausend Jahren, der Imperialismus oder der Kapitalismus, das waren eher so – Kleinigkeiten. Dass diese heute nur noch auf isolierten Inseln existieren und uns Gänsehaut verursachen, zumindest das haben wir den Revoluzzern von damals zu verdanken, wenn Sie uns schon sonst, Zitat Diekmann "um unsere Zukunft gebracht" oder zumindest das Hochschulsystem hoffnungslos in die Scheiße geritten haben. Je öfter ich dieses Dokument anhöre, desto stärker fühle ich in mir den Wunsch aufsteigen, Sit-Ins zu veranstalten, meine BHs zu verbrennen, bewusstseinserweiternde Drogen zu nehmen, das System zu stürzen, eine K-Gruppe zu gründen, Ho-ho-ho-Chi-Minh und USA-SA-SS zu skandieren und – ultima ratio – sogar meine Klotür auszuhängen.
Wer das nachfühlen will, den bitte ich, zur Vorbereitung den einleitenden Text zu lesen, und sich dann die "Visionen für den Traumjob der Zukunft" unserer jungkonservativen Freunde anzuhören. Klick!

(Bildausschnitt: Ehepaar am Frühstückstisch, 1954 – Fotografie Wolff und Tritschler; aus der Ausstellung "Die 68er", Mai-August 2008, Historisches Museum, Frankfurt am Main)