Leistungsgerechtigkeit

Wenn in Deutschland von “Steuerzahlern” die Rede ist, versteht man darunter praktisch immer Lohn- und Einkommenssteuerzahler. Laut dieser Rechnung ist es deutlich weniger als die Hälfte der Bevölkerung, die “den Karren zieht”. Besonders gerne verwendet diese Argumentation Guido Westerwelle:

“Ich will Ihnen die Zahlen noch einmal nennen, weil sie auch für unsere Zuschauer wichtig sind: Die oberen 50 Prozent der deutschen Steuerzahler erwirtschaften etwa 94 Prozent des gesamten Einkommensteueraufkommens der Republik…”

“Das ist das Ergebnis einer atemberaubenden Mehrbelastung der Mitte unserer Gesellschaft bei Steuern und Abgaben. Statt nur über soziale Gerechtigkeit sollte mehr über Leistungsgerechtigkeit geredet werden. Dass mittlerweile 50 Prozent der Steuerzahler 94 Prozent des gesamten Einkommensteueraufkommens des Staates erarbeiten, wird immer wieder verschwiegen.”

(Quellenangaben, zahlreiche weitere einschlägige Zitate und Diskussion bei Notatio)

Mit diesem rhetorischen Trick unterschlägt man erstmal diese klitzekleine Tatsache:

Sieh da – es gibt noch andere Steuerzahler als Lohn-und Einkommenssteuerzahler, genauer gesagt jeden Bürger, der jemals irgendetwas konsumiert. Also alle, inklusive Kinder und Bettlägrige und, ohooo, sogar Hartz-IV-Empfänger. Der Umsatzsteuer-Regelsatz beträgt immerhin 19%.

Wichtiger noch: mit der Identifikation von “Leistung” und “entlohnter Leistung” schließt man viele aus dem Leistungsbegriff aus, die (übrigens auch unter Ökonomen unstreitig!) beträchtliche Wohlfahrtsleistungen für die Allgemeinheit erbringen. Etwa die große Bevölkerungsgruppe der Frauen , die sich “nur” um Kinder, Alte oder um den Haushalt kümmern und damit riesige Wohlfahrtsgewinne erwirtschaften.

Dahinter steht eine durchschaubare und höchst zweifelhafte Aufteilung der Gesellschaft in “Leistungsträger” (die mit “Steuerzahlern” identifiziert werden) und “Nichtleistern”. Divide et impera. Erstere sollen auf die Seite der “bürgerlichen” FDP gezogen werden, letztere erstmal die Klappe halten, denn das Geld bringt ja schließlich der pater familias heim, und – das ist das Credo der FDP – Wer zahlt, schafft an. Das ist nicht mehr konservativ oder bürgerlich, sondern mittelalterlich oder sogar antik.

Kein Wunder, dass Westerwelle also nur noch von einer geistig-politischen Wende spricht (statt noch wie Kohl von einer moralischen). Angesichts der Plattheit seiner Sprüche und seinem hartnäckigen Beharren darauf, sich blöder zu stellen als der Mann auf der Straße, sollte er das “geistig” vielleicht auch einfach weglassen…

Explosiv

Dank modernster Technik konnte dieser junge Mann schon im Jahre 1950 seine Hose anbehalten! (Bild: Bundesarchiv)

„Die Sicherheitsbehörden interessieren sich doch nicht für primäre Geschlechtsmerkmale von Flugpassagieren, die interessieren sich zurecht dafür, was trägt jemand verborgen am Körper an gefährlichen Gegenständen und das muss technisch ausgereift sein, das ist es noch nicht. Die Privatsphäre des Menschen muss gewahrt werden und ich bin der festen Überzeugung, dass das technisch möglich sein wird (…)“

Warum diese Äußerungen von Herrn Wiefelspütz im Deutschlandfunk so zusammengefasst werden, als sei er ein tapferer Kämpfer gegen den Sicherheitswahn, verstehe ich nicht ganz. Ich höre da was ganz anderes, nämlich, dass er der Meinung ist, man müsse lediglich noch tollere Geräte entwickeln, dann sei das alles kein Problem mehr:

“Die Privatsphäre des Menschen muss gewahrt werden und ich bin der festen Überzeugung, dass das technisch möglich sein wird (…) Das wird erreicht werden müssen, das haben wir heute noch nicht. Wir haben solche Scanner noch nicht und wir brauchen sozusagen eine Weiterentwicklung dieser Technologie und sie muss dann verantwortbar sein.”

Herr Wiefelspütz glaubt also, dass sich Scanner entwickeln lassen, die an und in(*) allen Körperregionen Sprengstoff finden können und gleichzeitig den Sicherheitsbehörden nicht erlauben, die Fluggäste nackt zu sehen oder ihre Privatsphäre sonstwie zu verletzen. Ich glaube, ich weiß auch schon, wie diese Geräte funktionieren werden – man braucht lediglich eine geringe Menge Unobtainium

Ich habe dazu ja einen ganz anderen Ansatz. Installiert die Nacktscanner. Und dann sollten die Sicherheitsbehörden verpflichtet sein, jeden – wirklich jeden! – Fluggast vollständig nackt mindestens drei Minuten lang zu studieren. Inklusive Herrn Wiefelspütz’ Schniedelwutz. Als regelmäßige Besucherin eines öffentlichen Schwimmbades bin ich der festen Überzeugung, dass selbst der schäubleskeste Sicherheitsfanatiker an einem solchen Procedere nach wenigen Tagen jeden Spaß verlieren würde, schließlich zu Besinnung käme und einsähe, dass man sich das ganze Theater auch sparen kann:

“Our current response to terrorism is a form of “magical thinking.” It relies on the idea that we can somehow make ourselves safer by protecting against what the terrorists happened to do last time.”

(Bruce Schneier: Is aviation security mostly for show?)

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Wenn Hunde wählen könnten…

…dann wäre die komplizierte Außenpolitik ganz einfach:

Wen das noch nicht überzeugt hat, der findet hier noch weiteres Anschauungsmaterial.

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Reizlos

Die morgige Verleihung des ersten Feministischen Pornofilmpreises auf Europäischem Boden ist ja an sich eine gute Sache, wenn auch ziemlich verspätet –  eine lebendige Bewegung zur feministischen Demokratisierung oder Verteidigung von Sex bzw. Pornos gibt es auf dem amerikanischen Kontinent schon seit den 80er-Jahren, während bei uns nach wie vor eine unheilige Allianz aus DworkinianerInnen und anderen Ideologen den Diskurs beherrscht.

Aber mal ehrlich: wenn die taz dann dazu aufruft, Pornos sollten “die Lebensrealität von Frauen ausdrücken”, reichts einem doch schon wieder. Realistische Pornos! So eine idiotische Kopfgeburt kann doch nur aus Richtung Links kommen, also aus der gleichen Ecke wie gesunde Pizza, lebendes Wasser oder Recycling-Klopapier!

“When the gods wish to punish us…

…they answer our prayers."

(Das dürfte, abgesehen vom neckischen Polytheismus, übrigens einer der wenigen Punkte sein, in denen sich Oscar Wilde und die heilige Theresa von Ávila einig sind.)

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Wal-Empfehlung…

…gibt es hier. Ich würde ja eigentlich den Narwal empfehlen, ist der nicht toll? Oder – Halt, Moment, noch besser! – den Beluga, äh sorry, ganz falscher Link, den Beluga meinte ich.

Cohu bleibt dabei: das Lustigste an der Vorwahlkampfzeit sind immer noch die Wahl-O-Mat-Ergebnisse (startet heute, angeblich). Mal sehen, was diesmal rauskommt.

Information wants to be free

Die Medien dürfen bekanntlich erst ab einem gewissen Zeitpunkt über voraussichtliche Wahlergebnisse  berichten ("Exit Polls"). In Bulgarien nimmt man einen Umweg, um die Radiohörer schon vor sieben Uhr zu informieren: man kodiert die Ergebnisse. Das mit dem Wetterbericht ist noch relativ naheliegend ("Meanwhile, near the governing Socialists’ headquarters the temperature is an even chillier 20 degrees…"). Anstrengender wird es schon, wenn man Buchtitel und -preise heranzieht:

"Because we are socialists, a recent book by centre-left leader Segei Stanishev, sold at 19 leva, while Mein kampf by Adolf Hitler – referring to the nationalist Ataka party – sold at 12.3 leva."

Andere Sender verwenden Pseudo-Beliebtheitsskalen von Songs oder von Cocktails:

"Moscow dawn came second at 19.6 percent, followed by On this side of the Bosphorus – referring to the Turkish Movement for Rights and Freedom – at 13.3 percent." (EUobserver)

Zumindest in München schlug Weizengrassaft (Kräuter-Bionade?) die gute alte Bloody Mary haushoch… während in Schweden beachtliche 7,1% eine Buddel voll Rum vorzogen. Dass in Bayern so viele immer noch beim Weißbier bleiben (sogar, wenn es reichlich abgestanden serviert wird), ist angesichts der heute erhältlichen Getränkeauswahl erstaunlich…

(Bild: rick/Wikimedia Commons)

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Bildgebung

"Mit Fotos von Leichen, Raucherlungen, Tumoren oder kranken Kindern sollen Bätzing zufolge nun auch „Hardcore-Raucher“ erreicht werden."  FAZ.net: "Zigarettenschachteln von 2010 an mit Schock-Bildern"

Wasser auf meine Mühlen! Werbe ich doch schon lange dafür, Autos nur noch unter der Auflage verkaufen zu lassen, dass auf ihren Kühlerhauben und Sonnenblenden großformatige Fotos von blutigen Unfallopfern pappen. Memento mori, ihr Genusssüchtigen!

[Dass jedoch ab 2010 auf jedem Wahlzettel ein Posselt-Konterfei abgedruckt werden muss, um Wähler vor den Gefahren der repräsentativen Demokratie zu warnen, ist nur ein böses Gerücht.]

Alternativlos

In diesen Tagen betont jeder politisch Engagierte: wer nicht zur Europawahl geht, macht was falsch. Über den Vertrag von Lissabon würde ich in der Tat nur zu gerne abstimmen. Leider gibt es wohl keine einzige Partei, die politisch noch einigermaßen akzeptabel ist (d.h. moderat und nichtreaktionär, damit meine ich alles zwischen SPD, FDP, Grünen und in Gottes Namen sogar der CDU) und gleichzeitig gegen diesen Verfassungsvertrag.
Ich hatte ja auf die Libertas gehofft, die vom Programm her akzeptabel war – leider wird diese nun in Deutschland nicht selbst antreten, sondern geht eine Kooperation mit der AUF ein. So wichtig mir ein demokratisch legitimiertes Europa ist: nur über meine Leiche werde ich jemals eine Partei wählen, die sich "Christen für Deutschland" nennt und sich von Eva Hermann vertreten lässt.

Da in der Auswertung dieser Wahl aber jede Stimme, die nicht explizit für eine Anti-Lissabon-Partei abgegeben wird, als Zustimmung zu diesem Vertrag interpretiert werden wird, bleibt den Wählern, die gegen Lissabon sind, nichts anderes übrig, als zuhause zu bleiben (was, wie ich andernorts vertreten habe, auch nicht so schlimm ist wie oft behauptet). Für Alternativvorschläge bin ich dankbar.

Aber auch noch ne gute Nachricht: inzwischen finden sich die Songs des Robinson-Konzerts von Rainald Grebe, und auch viele andere Songs von ihm, auch bei YouTube. Hier eins meiner Lieblingslieder – zufällig handelt es auch von fehlenden Alternativen: 

[Da ich annehme, dass Herr Grebe an YouTube keinen Cent verdient, nun noch der obligatorische Hinweis: besucht ein Live-Konzert von Grebe, das ist es wirklich wert, oder kauft eine CD von ihm. Viele der Songs gibt es auch für schlappe 84 Cent als MP3-Download via Amazon, also sogar für altmodische Itunes-Verweigerer wie Cohu.]

Altersfrage

Im ersten Fall dieser Art hat sich ein amerikanischer Manga-Sammler schuldig bekannt, für den Aufbau einer umfangreichen Manga-Sammlung fiktive Kinderpornographie aus Japan importiert und im Besitz genommen zu haben. Nach einem 2003 verabschiedeten Gesetz wird auch fiktive Kinderpornographie verfolgt: der Angeklagte hat also mit bis zu 15 Jahren Gefängnis zu rechnen. (Wired-Artikel dazu). In Deutschland ist sowas auch strafbar ("kinderpornographischen Schriften … die ein tatsächliches oder wirklichkeitsnahes Geschehen wiedergeben").

[Sollte ich wegen Recherche dieser Rechtsfrage, die notwendigerweise die Suche nach zweifelhaften Stichwörtern via Google erfordert, von den Schergen der Zensursula in U-Haft genommen werde, bitte ich meine Leser, mir baldigst einen Kuchen mit eingebackener Feile zuzuschicken. Zur Not auch  Kuchen ohne Feile, solange es nur ein Schokoladenkuchen ist.]

Aber ernsthafte Frage: wie stellt man eigentlich die Volljährigkeit fiktiver Figuren fest? Reicht es, wenn z.B. in einem pornographischen Mangacomic die (fiktiven) vorpubertär erscheinenden Figuren im ersten Bildchen ihren (fiktiven) Ausweis hochhalten, in dem ihr (fiktives) Geburtsalter im einem Jahr vor 1991 liegt? Und wie verfährt man hinsichtlich der Altersfeststellung ausgedachter Personen eigentlich bei so kuriosen Fällen wie Peter Pan oder gar diesem hier:

"Well," gasped Mr. Button, "which is mine?"

"There!" said the nurse.

Mr. Button’s eyes followed her pointing finger, and this is what he saw. Wrapped in a voluminous white blanket, and partly crammed into one of the cribs, there sat an old man apparently about seventy years of age. His sparse hair was almost white, and from his chin dripped a long smoke-coloured beard, which waved absurdly back and forth, fanned by the breeze coming in at the window. He looked up at Mr. Button with dim, faded eyes in which lurked a puzzled question.

"Am I mad?" thundered Mr. Button, his terror resolving into rage. "Is this some ghastly hospital joke?

"It doesn’t seem like a joke to us," replied the nurse severely. "And I don’t know whether you’re mad or not–but that is most certainly your child."

The cool perspiration redoubled on Mr. Button’s forehead. He closed his eyes, and then, opening them, looked again. There was no mistake–he was gazing at a man of threescore and ten–a baby of threescore and ten, a baby whose feet hung over the sides of the crib in which it was reposing.

The old man looked placidly from one to the other for a moment, and then suddenly spoke in a cracked and ancient voice. "Are you my father?" he demanded.

Mr. Button and the nurse started violently.

"Because if you are," went on the old man querulously, "I wish you’d get me out of this place–or, at least, get them to put a comfortable rocker in here," 

(The Curious Case Of Benjamin Button. F. Scott Fitzgerald)

Die Juristen können sich glücklich schätzen, dass Herr Fitzgerald nicht auf Pornographie spezialisiert war…

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