Unten habe ich ja schon in das Thema “Spruchweisheit der unheimlichen Art” eingeführt. Allerdings fehlte noch etwas Wesentliches. Den wohl gruseligsten aller 50er-Jahre-Sprüche findet man auf einem Nachkriegshaus in der maxvorstädter Heßstraße, illustriert von markerschütternd moderner Lüftelmalerei. Ich hab da mal ein Bild gemacht (entschuldigt die schlechte Qualität, hab nur eine Handykamera):
Für diejenigen, die ihre Lesebrille gerade nicht zur Hand haben (ich weiß, auch mein Publikum wird älter) – da steht:
“Alles bedecken soll ein Haus, drum schwatzt, was drin geschieht, nicht aus. (Sprichwort)”
Auf dem Fresko sehen wir (das kann man jetzt echt schlecht erkennen) eine eitle, schmuckbehängte Tussi mit einer Truhe voller Familienjuwelen, einen sich der Völlerei hingebenden Fresssack, ein knutschendes Pärchen, einen bieselnden Hund, den Fresssack, wie er im Vollrausch darniederliegt, dann tuschelnde Tanten mit Geierköpfen, einen lauschenden Burschen, und schließlich sich empörendes Bürgertum (verwirrenderweise mit Tierköpfen). Links findet sich eine Illustration der Handlungsanweisung (nichts sehen, nichts hören, nichts sagen).
Man kann versuchen, diese grafische Moralpredigt irgendwie positiv zu interpretieren. Gegen Blockwart-Mentalität und Einmischung in die Privatsphäre anderer. Aber trotzdem: ich kriege Gänsehaut davon. Ein beliebtes – und in der Aussage sehr ähnliches – 50er-Jahre-Diktum (eigentlich: das, wenn auch selten explizit ausgesprochene, Diktum der Nachkriegsjahre) wäre übrigens:
“Darüber spricht man nicht!”
12. July 2007 at 13:59
Abgesehen, dass ich an der Existenz dieses Sprichwortes stark zweifle: Ein weiterer Grund, nicht in die Heßstraße zu ziehen.
12. July 2007 at 14:19
Ach gerne, all zu gerne hätte ich, wenn das Unterschichtenfernsehen und alle Klatschblätter »Darüber spricht man nicht« zum Leitmotiv machen würden. Es war eben nicht alles schlecht früher. 😉 Trotzdem denke ich auch an die 50er Jahre Episode in »The Hours«. Und natürlich an alles, was man über die deutschen Fuffziger zu wissen meint. Über den Zwang, alles und jedes mitteilen zu müssen hat sich Neil Postman schon in den 80ern tot amüsiert. Und der unterschätzte Bruce Willis bemerkte neulich irgendwo in Telepolis: »Klatsch war immer ein Nebenprodukt der Popkultur. Nun ist Klatsch das Hauptprodukt des Pop.« »Benehmt Euch und schweigt!« würde ich öfter in den Fernseher rufen, so ich denn einen hätte. [Eine meiner Großmütter wohnte auch in der Heßstraße. Aber ein wenig weiter östlich (glaub ich) und da ist am Eck eine Giraffe aufgemalt. Für mich als Kleinkind war das einfach die Giraffenstraße und gar kein Grauen lag dahinter.]
12. July 2007 at 15:29
@Tobi: Die Zeit dieses Sprichwortes ist definitiv vorbei – kein einziger Google-Hit. In die Heßstraße würd ich sofort ziehen, schon wegen dem Heßstüberl! @Oweh: Die Giraffe kenn ich auch!Wenn Neil Postman öfter mal die Klappe gehalten hätte, hätte es auch nicht geschadet, seltener Schwafelkopf. Für Cohu gilt: lieber 24 Stunden Unterschichtenfernsehen als eine Stunde Kulturpessimismus (ob von links oder rechts). Da werde ich insbesondere bei einigen Sendungen im Deutschlandfunk zum Berserker. Ich rufe dann allerdings nicht "Benehmt Euch und schweigt!", sondern eher etwas deutlichere Sachen. Also, auch Radio kann aufregen.
12. July 2007 at 16:12
@cohu: Ach, mit Kulturpessimismus liebäugle ich ich schon. Ist mir duch gestern der Begriff »Bedeutungsentropie« (Kein Googletreffer, also hab ich’s erfunden! Denn die Welt ist alles was Google ist, oder?) durch den Kopf geschossen. Auf den bin ich jetzt stolz wie weiland der selige Peter »beschleunigt« Glotz und überlege, wie ich da 300 Seiten drumrumschreiben kann. Mindestens :-)Neinein, ich lass nicht ab von meinem Hobby. Der alte Sinnspruch (um sich von fern an das Thema anzulehnen) »Lerne klagen ohne zu leiden« ist doch DAS Motto für den ernsthaften, anschwellenden Kulturpessimisten. *bock*Apropos leiden: Warum kenne ich als alter Ex-Heßstraßenbewohner das »Heßstüberl« nicht? Da muss ich glatt mal gucken gehen. Apropos nochmal leiden: Ich kann mich an die »Jazzwelle« im Radio erinnern. Die Moderatoren waren alle nicht fähig, auch nur einen Satz im Stück herauszubringen. Was habe ich meine Boxen geschüttelt und »Sprich endlich, Jazzdepp!« gebrüllt. Oder so. [He, und was hab ich als Kind auf die Blitzdinger der TU gestarrt, ob da endlich mal was einschlägt. Meine Großmutter hat genau gegenüber gewohnt. 3.Stock. Perfekt. Nie einen Blitz gesehen.]
12. July 2007 at 21:21
Ach, Blitze sollen die anziehen! Das wußte ich gar nicht, interessant. Dachte das wären Kunstwerke. Also wegen dem Heßstüberl…das ist sozusagen eher von anthropologisch-ethnologischem Interesse. Aber vielleicht gerade deshalb ja was für Kulturpessimisten. Leiden ohne zu Klagen streben die Stammgäste dort wohl auch an. Oder war das Klagen ohne zu Leiden? Egal, mit Chantré und Rothändle kriegt man beides relativ gut und schnell hin, hab ich den Eindruck.